Erfahrungsbericht: Michael Buchmüller

Mit der Rikscha unterwegs

Michael Buchmueller

Michael Buchmüller . 1. Vorsitzender des Vereins „Radeln ohne Alter Konstanz e.V.“ berichtet hier von seinen ersten Fahr-Erfahrungen im Frühjahr 2024.

Mit der ersten Rikscha Präsenz zeigen

Mitte Mai 2024 fahren mein Nachbar und ich nach Frankfurt, um die erste Rikscha abzuholen. Ein Ausstellungsstück für 7500 Euro, deutlich günstiger als eine neue, die über 12 000 Euro kosten würde. Auch wenn der Verein noch in Gründung ist: Eine Rikscha soll her, um in der Stadt Präsenz zu zeigen. Und die „Rechnung“ geht auf, denn wo man auch hinkommt: die orangene Rikscha erregt Aufsehen. Und sitzt dann noch ein/e Senior:in vorne drin, wird kräftig gewunken! Und alle Passanten beginnen zu lächeln, Denn jede/r begreift sofort, was wir da tun.

Die Seestraße und Gemälde im Haus Zoffingen

Ich hole mit der Rikscha Frau S.  ab. Die seit sieben Monaten im Haus Zoffingen wohnt. Sie hat sich gerichtet: Roter Lippenstift, roter Strohhut. Wir wollen sie erst noch zur Seestraße fahren, „wo ich früher, als ich in der Von-Emmich-Straße wohnte, täglich hinging.“ Aber obwohl sie nun nur weniger hundert Meter von der Seestraße entfernt lebt, habe sie es in all diesen Monaten nicht mehr dort hingeschafft. „Sie machen mir eine große Freude,“ sagt sie immer wieder. Wir rollen über die Fahrradbrücke hinüber, stehen still am Seerheinufer, wo Wellen an den Wall klatschen. Das Wasser steht hoch nach dem vielen Regen. Frau S. erzählt von einem früheren Hochwasser, „wo man ab dem Casino nicht mehr weitergehen konnte.“ Vorher hat sie mir noch erzählt, dass sie Malerin ist. Viele ihrer Bilder hängen auch im Haus Zoffingen. Zurück am Seniorenheim verabschieden wir uns voneinander, nachdem wir für den nächsten Tag einen Besuchstermin ausgemacht haben. Ich bin neugierig geworden. Auf ihre Bilder!

Am nächsten Tag: Stolz führt mich Frau S. durchs Haus: Gemälde von Tieren und Pflanzen, detailgetrau abgebildet, beeindruckende Kunstwerke, allein in ihrem Zimmer lagern noch Dutzende weitere. Sie alle zeigt sie mir. Eine Pflegerin erzählt, wie man diese alle „gerettet“ habe. Frau S. musste nämlich ganz plötzlich ins Heim. „Und wir sind zu ihr nach Hause gefahren und haben alle Bilder eingepackt, ansonsten wären sie entsorgt worden.“ Jetzt sind sie gerettet- und viele von ihnen aufgehängt in den Fluren und Gängen vom Haus Zoffingen.

Unser Fazit dieser Aktion, kurz und knapp: Frau S. kam mal wieder raus aus dem Heim, und ich kam rein. Türen sind aufgegangen, wurden durchlässig. Genau das, was wir vom Verein „Radeln ohne Alter“ unter Teilhabe am Stadtleben verstehen.

Die Fahrt zum Friedhof

Konstanz im Juli: Frau K. lebt ebenfalls im Haus Zoffingen. Ihr Mann ist vor zwei Jahren gestorben und liegt auf dem Hauptfriedhof. Von der Rikscha hat sie in der Zeitung gelesen und sich gleich gemeldet. „Denn ich will mal wieder meinen Mann besuchen.“ Ein heißer Junitag, 14 Uhr. Ich hole sie ab, sie sitzt schon auf der Bank vor dem Heim und wartet. „Ich will ja niemanden warten lassen.“ Sie besteigt problemlos die Rikscha, und kaum sind wir losgefahren, beginnt sie zu erzählen. „Wir waren 60 Jahre verheiratet.“

Und die ganze Stadt kenne sie natürlich auch. Eine Erinnerung pro Straßenecke, an der wir vorbeikommen. Noch immer nagt an ihr, dass sie die eigene Wohnung aufgeben musste. Und noch immer fehlt der Ehemann, der nun so unwiederbringlich fort ist… Seit Weihnachten war sie nicht mehr auf dem Friedhof, und dass sie nun wiederhinkomme- ein Traum! „Da machen Sie mir ein riesengroßes Geschenk.“

Auf dem Friedhof dirigiert mich Frau K. souverän zum Grab ihres Mannes. Dort parken wir, ich setze mich zu ihr nach vorne. Sie erzählt von ihren Kindern, von den gemeinsamen Jahren, sie spricht den Verstorbenen an, Tränen kommen, für die sie sich schäme. „Das brauchen Sie doch nicht.“- „Unfassbar, dass er nicht mehr da ist-…. „

Wir verharren einige Minuten in Stille, dann verabschiedet sie sich, wirft ihm eine Kusshand zu. Verspricht wiederzukommen.

Epilog

Eine 94jährige Winzertochter aus dem Haus Zoffingen will mal wieder ein Viertele trinken. Wir machen deshalb eine Ausfahrt in einem Biergarten, sitzen am Tisch, ein Glas Weißwein (für jeden) wird bestellt. Sie erhebt das Glas und spricht: „Ich lieb den Wein, ich lieb den Wein, im Sitzen und im Liegen. Und bin ich einst ein Engelein, lieb ich ihn auch im Fliegen!“ Na denn: Prost!

Erfahrungsbericht: Raphael Koschorke

Wie die Rikscha für Angehörige „ein Erlebnis“ wird

rikscha-erfahrungsbericht

Bis Raphael K.s Vater 83 war, lebte er in einem einsamen 300-Seelen-Dorf in der Nähe von Siegen. „Hinterm Haus der Friedhof, danach kam der Wald. Er liebte es dort, spazieren gehen.“ Obwohl: Spazieren gehen trifft es nicht ganz. „Mein Vater legte dort Trampelpfade an, auf denen er nachdachte.“ Als Mathematikprofessor betrieb er seine Forschungen nicht am Schreibtisch, sondern im Gehen.

Ein selbst bestimmtes Leben mit seiner zweiten Frau, bis es mit der Betreuung nicht mehr ging. Zwei Jahre mit 24-Stunden -Pflege schlossen sich an, dann holte der Sohn seinen Vater Ulrich nach Konstanz. Mai 2024, im Seniorenheim Haus Zoffingen war ein Platz für ihn frei.  „Er war hier recht glücklich und ja auch noch rüstig.“ Bald hatte er seine festen Runden im Hof gefunden, die er mit dem Rollator abging, kleine Ausflüge in die angrenzende Niederburg folgten. Obwohl sein Orientierungssinn nachließ. Er kam stets zurück. „Vater, wie machst du das?“-„Ich geh immer links.“

Raphael besucht ihn mit Frau und seinen beiden Kindern, die Schwester mit zwei weiteren Enkeln kommt aus Zürich zu Besuch.

Die neurogenerative Krankheit schreitet fort, Symptome wie bei der Demenz treten vermehrt auf. „Ich hatte schon überlegt, wie ich ihn mobiler machen könnte.“ Ein besonderes Fahrrad kaufen? Raphael zögert. „Die sind sehr teuer, und  du weißt nicht, wie lange du sie wirklich nutzen kannst.“

Die perfekte Möglichkeit für uns

Da trifft er am Eingang des Heims auf „Radeln ohne Alter Konstanz.“ In Form einer Rikscha, die da steht und Seniorinnen zu einer Spazierfahrt abholt. Und er erkennt die Chance. „Das war die perfekte Möglichkeit für uns!“ Er lässt sich zum Piloten ausbilden, obwohl er schon einer ist. Beruflich fliegt er große Passagiermaschinen, privat fährt er nun ein elektrobetriebenes Fahrrad, vorne drin sitzend: sein Vater.

„Mein Vater hat da oft schon am Nachmittag vergessen, was es am Mittag zu essen gab. Aber an die erste Rikschafahrt hat er sich noch nach eine Woche erinnert.“ Es geht in den eigenen Schrebergarten, wo „einfach schöne Familientage verbracht werden.“. Sommer 24. Manchmal sitzen die Enkel neben dem 83-Jährigen, manchmal fährt der Sohn alleine mit ihm los, hinaus in den Lorettowald. „Mein Vater führte als Junggeselle ein Hippie-Leben, verreiste mit dem Auto, in dem er dann wochenlang schlief.“

Das Rikschafahren wie ein Nachklang auf lange zurückliegende Abenteuer…-

Manchmal sitzt Raphael auch neben ihm, dann fährt die Schwester. Und wenn der Opa sich im Gartenstuhl ausruht, dürfen die vier Enkel eine Runde mit drehen.

Die Rikscha wird zum Familien-Erlebnis.

„Die Kinder haben das gefeiert!“ Alle nehmen teil am Gefühl der Freiheit. „Das ist schon für uns toll“, sagt Raphael. „Doch es ist noch viel toller, wenn man dies einem lieben Menschen ermöglichen kann.“

Ulrichs Schwester kommt zu Besuch, selbst nicht mehr gut zu Fuß. Raphael kann sie mit der Rikscha vom Bahnhof abholen, danach lädt er seinen Vater dazu. Ein nicht mehr mobiles Geschwisterpaar erlebt einen schönen Ausflugstag, der im Garten endet. Wo die Nachbarn neugierig herüberlinsen, die Rikscha betrachten und auch mal probefahren dürfen: „Tolles Teil!“

Das Fazit von Raphael: „Für uns als Familie war dieser Sommer eine wertvolle Zeit mit wunderschönen, gemeinsamen Erlebnissen.“ Den Vater und Opa hautnah erleben, mit ihm unterwegs sein. Das sind Erinnerungen, die bleiben. „Opa, wie alt bist du?“ Der Opa versteht nur „krummer Schuh“. Alle lachen.

Ein Gefühl der Dankbarkeit

Raphael blickt zurück auf ein Leben Vater-Sohn-Beziehung: Er nach der Trennung der Eltern mit der Mutter und der Schwester in Rio de Janeiro aufgewachsen. Der Vater, der in der vorlesungsfreien Zeit für einen Monat zu Besuch kam. „Wir ging in die nahen Berge zum Wandern.“ Unter der Woche jeden Dienstag und Freitagabend, punkt sieben, Anrufe. „Die damals noch über Satelliten gingen und sehr teuer waren.“ Eine punktuelle Beziehung, dann der Abstand nach Siegen. Im Erwachsenenleben wenig Gelegenheiten, zusammenzukommen. Doch nun, zum Ende hin, diese intensive Zeit, gemeinsam, vor Ort. Das hat etwas Versöhnliches und macht die Beziehung rund. Hinterlässt ein Gefühl der Dankbarkeit.

Denn Ende Oktober stirbt Ulrich. Nach einem Schlaganfall, Ende August, erholte er sich nicht mehr.

Doch dieser Rikscha-Sommer, „für den wir unglaublich dankbar sind“, der bleibt.

Bleibt unvergesslich.